Ist das Kunst, oder kann das weg? Bei Gunter Wehinger und Tilmann Dehnhard ist die Antwort klar. Die beiden Querflötisten sind Dozenten beim Flötenfestival querwind in Staufen und Experten, was die Improvisation angeht – der eine im tonalen, der andere im atonalen Bereich.

Wie findet man den Mut, einfach drauflos zu spielen, und sollte man das überhaupt? Improvisation ist kein einfaches Thema, gerade für Musiker:innen, die aus dem klassischen Orchesterbereich kommen. Gunter Wehinger und Tilmann Dehnhard sind Experten auf dem Gebiet. Beide kommen ursprünglich aus der klassischen Musik. So hat Dehnhard Flöte und Saxophon in Berlin studiert, Wehinger klassische Flöte in Zürich, St. Gallen und auch Los Angeles. Schon damals in den 80er-Jahren kam Wehinger über sein Hobby-Instrument, das Keyboard, auf den Geschmack des Jazz, erzählt er. „Ich habe in Pop-Rock-Bands gespielt  und immer wieder haben wir gejammt. Dann bin ich auf den Jazz gestoßen, das hat mir sehr gut gefallen. Dieses Gefühl der Freiheit in der Musik ist einfach unglaublich!“ Auch Dehnhard ist ein großer Freund der Freiheit. Er hat sich nicht nur von der klassischen Musik, sondern auch vom tonalen Bereich gelöst. „Ich mag es, wenn sich die Musik nicht festlegt“, erklärt er. „Dadurch ist man viel flexibler und losgelöster von allem, was einen festhält.“ Was die beiden gemeinsam haben, ist ein Instrument, das im Jazzmusikbereich eher selten anzutreffen ist. „Viele Saxophonist:innen spielen Flöte als Zweitinstrument“, berichtet Dehnhard. Er hat auch mit beiden Instrumenten angefangen, sieht sich aber wesentlich mehr als Flötist denn als Saxophonist. „Ich habe das Saxophon immer noch in meinem Leben, aber die Flöte mag ich wesentlich lieber“, gesteht er lächelnd. Wehinger hat auch oft mit Flöte spielenden Saxophonist:innen zu tun, wenn diese an der Zürcher Hochschule der Künste oder der Musikhochschule Basel zum Unterricht erscheinen. Wehinger ist Professor für Jazzflöte in Zürich und Basel, ein Beruf, der ihm sehr viel Freude macht. Es ist auch daher bemerkenswert, da es für Jazzflöte wenig Nachfrage im Hauptfach und somit wenige Professuren gibt. „Die Flöte hat gegenüber dem Saxophon im Jazz einen großen Nachteil: Sie ist nicht laut genug“, erklärt Wehinger. „In der Big Band oder im Ensemble ist es schwierig, ohne Verstärkung gehört zu werden. Wenn die Verstärkung außerdem nicht gut ist, hat die Flöte einen ganz schmalen Ton, im  Gegensatz zu dem breiten Spektrum, das sie normalerweise hat. Darum gibt es auch nicht so viele Musiker:innen, die diesen Weg in Richtung Jazz gehen.“ Dehnhard fügt dem hinzu: „Das Saxophon ist im Jazz das Hauptmelodieinstrument. Aber auch die Flöte hat einen unglaublich schönen Klang.“

Geliehene Balkone und Klangwolken

Dehnhard ist nicht nur Dozent und Musiker, sondern auch Komponist. Oft bekommt er Aufträge, die er dann umsetzt und für die er sich inspirieren lässt. „Manchmal können mir meine Auftraggeber:innen schon eine Richtung sagen, in die es gehen soll“, erklärt er seine Vorgehensweise. „Im Rahmen dieser Grenzen probiere ich mich dann aus. Auch wenn ich die Grenzen dann meistens überschreite“, schmunzelt er. Für Dehnhard ist dabei auch  besonders wichtig, dass die Musik an erster Stelle steht. „Erst dann kommen die Gestaltung und die Persönlichkeit. Beim Improvisieren wird es viel schneller individuell.“ Ein weiteres Beispiel für ein außergewöhnliches Konzert war die ,Balkonia‘. Dieses Projekt ist durch die Pandemie entstanden und bestand daraus, dass verschiedene Musizierende von verschiedenen Balkonen in einem Wohnblock gleichzeitig spielten. „Das war ein sehr geschlossener Ort aus fiesen  Wohnschachteln mit Raum in der Mitte, wo lauter Kastanien standen“, berichtet Dehnhard. Doch zunächst musste man die Balkone für das Balkonkonzert erst einmal bekommen. So sprach er einfach ein paar der Anwohner:innen an, die gerade am Spielplatz waren. „Das war sehr lustig“, erinnert sich Dehnhard. „Die eine kannte wieder eine aus der anderen Etage und hat die kurz angerufen, die dann wieder jemanden kannte. Im Nu hatten wir genug Plätze.“ Das Publikum stand während des Konzerts inmitten der Bäume und konnte nicht sehen, wo die Musik genau herkam. „Es war unglaublich spannend zu komponieren“, berichtet Dehnhard. „Weil die Musik auf die Entfernung nicht synchron sein kann, habe ich mit Klangwolken in 30-Sekunden-Schritten gearbeitet.“ Sehr positiv war auch die Rezeption: Ein Mann habe sogar sein Akkordeon geholt und von seinem eigenen Balkon aus mitgespielt. Daran erinnert er sich immer noch gerne.

Inspiriert vom eigenen Komponieren

Auch Wehinger komponiert – „phasenweise“, wie er selbst sagt. „Gerade im Jazz ist es für einen Flötisten wichtig, seine eigene Klangsprache zu finden“, erklärt er. „Das nehme ich mit in mein Komponieren hinein.“ Wehinger hat zwar auch schon größere Werke komponiert, jedoch gefallen ihm kurze Stücke mehr: „Ich bin glücklich, wenn meine Komposition am Ende auf ein Blatt passt“, schmunzelt er. Während des Komponierens findet er neue Ideen für sein Spielen und kann sich daran ausprobieren. Vor ein paar Jahren nahm er ein Projekt in Angriff, bei dem er sich von Debussy inspirieren ließ. „Ich hatte den Stücken zwar nichts hinzuzufügen, aber ich konnte mit der Ästhetik arbeiten“, erklärt er. So arbeitete er die Stücke so lange um, bis das Material so kondensiert war, dass es auf ein Notenblatt passte – und über dieser Basis improvisierte er, bis er eine ganze CD von klangvollen Stücken für sein Ensemble zusammen hatte. Doch seine Werke sind nicht nur zum Hören, sondern auch zum Lesen. Wehinger hat ein Buch geschrieben – eine kurze Abhandlung der Jazzgeschichte für seine Studierenden. „Das ist aus meiner Unterrichtsarbeit entstanden“, erklärt Wehinger. „Ich habe Jazzgeschichte unterrichtet, auch für Leute, die es lernen mussten, ohne sich groß dafür zu interessieren. Die werden vor der Klausur keine fünf dicken Wälzer zur Jazzgeschichte lesen.“ Also fasste er seine Notizen zusammen, und kurze Zeit später wollten auch andere Studierende das Ergebnis haben und fragten danach. Wehinger betont: „In dem Buch geht es nur um das Wichtigste. Es endet auch bereits in den 70ern beim Free Jazz und dem Beginn der Atonalität. Ich wollte einfach das Essenzielle knapp zusammenfassen.“ Das Unterrichten, nicht nur von Musikgeschichte, sondern vor allem der Musikpraxis, ist ein wichtiger Teil im Leben von Gunter Wehinger und auch von Tilmann Dehnhard. Besonders viel Spaß macht Wehinger daran, die Dinge zu hinterfragen, die man selbst für selbstverständlich erachtet. „Wenn man einem Schüler oder einer Schülerin  etwas Neues beibringt, fragt man sich selbst: Wie spiele ich das eigentlich, und warum? So kommt man selbst immer wieder auf neue Ideen.“ Beim  Flötenfestival querwind hat er die besondere Herausforderung, dass er einerseits nicht jede Woche ein Treffen mit den Musiker:innen hat und andererseits auch nicht das Niveau eines Musikstudierenden erwarten kann. Doch auch dafür hat er eine Lösung: „Erst einmal muss man das Niveau finden, auf dem man einsteigen kann. Dann ist es meine Aufgabe, zu erkennen, wo ich in kurzer Zeit am meisten Input geben kann“, erklärt Wehinger seine Verantwortung als Dozent. „Ich bin quasi der Türöffner für neue Ideen.“ Beim Jazz sei es oftmals erst einmal ein Vorspielen und Nachspielen, damit die Teilnehmerinnen und Teilnehmer übers Hören viel mitnehmen können. Dehnhard sieht seine Aufgabe bei querwind vor allen Dingen darin, den Menschen die freie Improvisation ein Stück näher zu bringen: „Es ist ein großer Schritt von ,Oh Gott, was soll ich machen‘ hin zu ,Ich darf ja machen, was ich will‘. Wenn man das eigene Schöpferische entdeckt, geht eine ganze Welt auf.“

Monika Müller