Musik hat die Macht, Geschichte und Schicksale lebendig werden zu lassen. Die Jugendlichen des Jugendblasorchesters der Stadtkapelle und die Kinder des Schulchors der Grundschule an der kleinen Elz in Kenzingen konnten das im Herbst 2022 hautnah erleben. Mehr noch: Sie waren diejenigen, die die Musik bei einem hochemotionalen Konzert zum Klingen brachten, mit der der junge Komponist Andreas Vetter die Schicksalsjahre der Inge Auerbacher vertonte.

Inge Auerbacher wurde 1934 in Kippenheim geboren und wuchs dort in einem streng gläubigen jüdischen Elternhaus auf. Im Holocaust wurden die meisten ihrer Familienangehörigen ermordet, sie selbst und ihre Eltern überlebten im KZ Theresienstadt und emigrierten in die USA, wo sie noch heute in New York lebt. In ihrer Autobiografie „Ich bin ein Stern“, erzählt Inge Auerbacher von der schrecklichen Zeit im Konzentrationslager, von der Verzweiflung und der ständigen Angst. Mitte der 1960er-Jahre kehrte sie erstmals in die Ortenau zurück, später immer wieder in regelmäßigen Abständen, um als Zeitzeugin nachgeborenen Generationen vom Schrecken der Judenverfolgung in Deutschland zu berichten. Noch im Januar 2022 hielt die 88-Jährige im Deutschen Bundestag eine bewegende Rede. In Kippenheim und auch drei Ortschaften weiter südlich in Kenzingen ist nicht nur der Name Inge Auerbacher den meisten Menschen ein Begriff, viele konnten sie persönlich kennenlernen oder bei einem ihrer Besuche – zuletzt im Februar 2022 – in der Ortenau erleben. Es gibt in Kenzingen einen deutsch-jüdischen Freundeskreis, der den Kontakt zu Inge Auerbacher pflegt und die Erinnerung lebendig hält sowie eine intensiv gelebte Patenschaft der Grundschule mit der Holocaust-Überlebenden. In dieser Grundschule, die alljährlich am 9. Mai einen Inge-Auerbacher-Tag veranstaltet, geht auch Franz Schindler, Leiter des Jugendorchesters Kenzingen, auf dem Weg zum Instrumentalunterricht oder zur Bläserklassenstunde seit vielen Jahren ein und aus. „Und immer komme ich am Schaukasten vorbei, in dem die Patenschaft mit Inge Auerbacher dokumentiert wird und ihr Gedicht ‚Ich bin ein Stern‘ zu lesen ist,“, erzählt er. Mit jedem Mal reifte die Idee, das Gedicht und das Leben der Inge Auerbacher zu vertonen, mehr heran. Dank der Förderung durch das Förderprogramm IMPULS konnte Franz Schindler die Idee zu einer Auftragskomposition realisieren. Einen Komponisten musste er dafür nicht lange suchen. Er fand ihn gleichsamin den eigenen Reihen: Andreas Vetter, Vize-Dirigent und Saxophonist der Stadtkapelle Kenzingen. Mit ihm hatte Franz Schindler 2019 das große Musical „Schiwa“ inszeniert. Auch damals hatte Vetter die Musik komponiert. Zunächst jedoch galt es die Erlaubnis von Inge Auerbacher einzuholen. Sobald sie vorlag – und Inge Auerbacher gewährte sie mit Freude – nahm sich der Impulsgeber Franz Schindler für den Moment raus und brachte Andreas Vetter direkt mit Inge Auerbacher zusammen. „So wurde die Geschichte nicht über Dritte transportiert, sondern die Hauptperson selbst hat dem Komponisten ihr Leben erzählt“, berichtete Schindler.

Ihr einziger Wunsch: ein positiver Schluss

Andreas Vetter nahm Kontakt zu Inge Auerbacher auf und lernte sie per Videocall kennen. „Aus Hochachtung vor ihrer Person und vor dem, was sie erlebt hat, habe ich mich zunächst vorsichtig per Mail rangetastet. Aber von Anfang an war Inge per Du und sehr herzlich, so dass sich schnell eine Freundschaft entwickelte“, erzählt Andreas Vetter. Im engen Skype- und E-Mail-Austausch mit ihr hat Vetter die Idee für seine Komposition entwickelt und Inge Auerbacher dabei als lebensfrohen, herzlichen und offenen Menschen kennengelernt. Inge Auerbachers einziger Wunsch im Hinblick auf das entstehende Werk war für ihn deshalb absolut stimmig: Die Geschichte ihrer Kindheit mit der Vertreibung aus Kippenheim, der Verfolgung, ständigen Bedrohung und Deportation nach Theresienstadt, müsse „mit Hoffnung enden“. Andreas Vetter hat ihr diesen Wunsch erfüllt. Mehr noch: Er hat ein „sehr emotionales Musikstück mit einer Fülle von spannenden Details“ geschaffen, wie die Lokalzeitung nach der Uraufführung urteilte. Das rund 12-minütige Werk hat Andreas Vetter in drei Sätze  unterteilt und mit Percussion- und Voicing-Effekten atmosphärisch stark aufgeladen und verdichtet – drei Sätze, weil auch Inge Auerbacher selbst immer von ihren „drei Leben“ spricht.

Die drei Leben der Inge Auerbacher

Im ersten Satz, der den Titel „Backstein-Dämonen“ trägt, wird das Ankommen in den Mauern von Theresienstadt musikalisch erzählt. Im zweiten Satz, der mit „Dunkle Tyrannen“ überschrieben ist, wird das düsterste Kapitel Inge Auerbachers Lebensgeschichte dissonant und mit dunklen Klangfarben in Szene gesetzt. Der dritte Satz, der den Titel „Leuchten der Sterne“ trägt, setzt dem Werk einen hoffnungsvollen Schlusspunkt – passend zur positiven Einstellung von Inge Auerbacher, die sie selbst in einem Spiegel-Interview einmal auf den Punkt brachte: „Für Hass bin ich nicht am Leben geblieben!“ Und deren Satz „Man muss immer Hoffnung haben!“ wie ein Lebensmotto klingt. Tief beeindruckt von Auerbachers Optimismus setzt Andreas Vetter diesen Satz in helle Klangfarben und lässt dazu helle Kinderstimmen erklingen. Der Schulchor der Grundschule an der Kleinen Elz unter der Leitung von Christiane Hirzel studierte dazu das Lied „Ich bin ein Stern“ ein, mit dem Andreas Vetter versuchte, Inge Auerbachers Kernaussagen auszudrücken. Bei Vetters Komposition ging es aber nicht nur darum, dem Thema gerecht zu werden. Auch die Zusammensetzung des Jugendorchesters und den Leistungsstand der jungen Musizierenden galt es zu berücksichtigen. Eine große musikalische Herausforderung wurde das Werk für die Jugendlichen dennoch. „Da sind viele atonale Sachen, dissonante Intervalle und rhythmische Herausforderungen drin. Im zweiten Satz gibt es außerdem anspruchsvolle solistische Passagen für Trompete, die nur ein Profi spielen kann“, berichtet Franz Schindler, der das Werk deswegen im Oberstufenniveau ansiedelt. Auch Andreas Vetter weiß, „das ganze Werk ist anspruchsvoll und sehr komplex geworden“. Zudem war die Probenzeit ziemlich knapp. Denn als das Jugendorchester unter der Leitung von Franz Schindler im September mit den Proben begann, lag nur der erste Satz vor. „Dieser ‚work in progress‘ ist typisch für Andreas“, weiß Schindler aus anderen gemeinsamen Projekten. Eine Schlüsselbedeutung bei der Erschließung des Werkes kam, laut Schindler, deshalb dem Probenwochenende zu. „Andreas Vetter hat sich eine Stunde lang Zeit genommen, um den Jugendlichen seine Komposition, dessen Hintergründe und was er wie ausdrücken wollte, zu erläutern“, erzählt Schindler, „das hat uns menschlich auf die Geschichte programmiert und motiviert, dran zu blieben.“ Jugendleiter Tristan Römer fand die Begegnung mit der Musik spannend. „Es gibt ganz viele junge Musiker, die etwas mit Inge Auerbacher anfangen können“, sagt Römer. Auch für ihn selbst war das Thema nicht unbekannt, wohl aber die  musikalische Interpretation, sagte er nach dem Probenwochenende. Mit „Proben, Proben, Proben“, der Einbeziehung der Instrumentallehrer  und viel Motivation konnten letztlich auch die musikalischen Herausforderungen gemeistert werden. Eine besondere Motivation waren für Franz Schindler die Kinder. Als sie zum ersten Mal das Lied gesungen haben, ging allen das Herz auf“, erzählt Schindler.

Die Botschaft der Musik kam an

Dem Publikum in der  Üsenberghalle in Kenzingen erging es bei der Uraufführung nicht anders. Eingebettet ins Jahreskonzert der Stadtkapelle, das unter dem Motto „Heimat“ stand, präsentierten die Kenzinger Jungmusiker:innen und der Schulchor der Grundschule Andreas Vetters Komposition „Ich bin ein Stern“ und sorgten für zahlreiche Gänsehaut-Momente vor und auf der Bühne. Besonders eindrücklich war für Franz Schindler der Moment nach dem zweiten Satz, der mit vielen schrägen Tönen und musikalischem Chaos die bedrückende Situation im KZ Theresienstadt darstellte. „Aus der absoluten Stille heraus begann der dritte Satz mit hellem Licht und dem Gesang der Kinder – ein Gänsehaut-Moment“, erinnert er sich – der im Refrain des Liedes seinen Höhepunkt fand: „Alle Menschen sind Sterne. Wir sind Kinder dieser Welt. Jedes Lächeln ist ein Leuchten, das die dunkle Nacht erhellt.“ Aus gesundheitlichen Gründen konnte Inge Auerbacher selbst leider nicht bei der Uraufführung dabei sein. Die Video-Aufnahme aber hat sie in der Zwischenzeit erhalten. „Sie hat sich wahnsinnig gefreut und geehrt gefühlt, dass ihr Leben vertont wurde und fand die Komposition sehr passend und bewegend“, berichtet Andreas Vetter. Etwas zu bewegen und etwas beizutragen zu Frieden und Versöhnung – das war und ist Inge Auerbacher immer ein Anliegen. „Und sie kann auch etwas bewegen“, ist sich Andreas Vetter sicher, „das hat das Konzert gezeigt“. In der Tat: Ihre Geschichte hat das Publikum nachdenklich gemacht, bewegt und berührt – und die Botschaft kam an – auch in der Sprache der Musik. Daran ließen die Reaktionen des Publikums keinen Zweifel. Am Ende war der Beifall groß und der zweite Vorsitzende der Stadtkapelle sicher: „Da wird viel darüber geredet werden.“ Auch das zu hören wird Inge Auerbacher freuen. Schließlich hat sie selbst ihr Leben lang gegen das Vergessen und das Schweigen angeredet. Und da, wo sie nicht sprechen kann, legt jetzt die Musik Zeugnis ab von ihrem Schicksal.

Martina Faller